Scottish Crime

Das Jahr 2020 nähert sich (endlich) seinem Ende, und viele von uns werden es wohl nicht in allzu guter Erinnerung behalten. Dafür war es einfach zu mühsam – für mich zumindest. Aber besonders in schwierigen Zeiten ist es wichtig, sich selbst hin und wieder eine Freude zu machen und Traditionen, die einem gut tun, hochzuhalten. Beides habe ich vor kurzem in einem Aufwisch erledigt, sozusagen zwei Vögel mit einem Stein getötet. Wenn euch dieses Bild aus Gründen des Sprachschutzes (vom Tierschutz wollen wir mal absehen) sauer aufstößt, bitte ich euch, auf den nächsten Beitrag zu warten. Ich verspreche, es wird nicht wieder ein halbes Jahr dauern… Aber zurück zu den guten alten Traditionen. Tradition Nr. 1: Im Dezember mir selbst ein Weihnachtsgeschenk machen – eine Shoppingtour in einer Buchhandlung ohne schlechtes Gewissen und Rücksicht auf den SUB. Tradition Nr. 2: Den neuesten Roman von Tana French, meiner aller-allerliebste Krimiautorin, der verlässlich alle zwei Jahre im Herbst erscheint, in den Weihnachtsferien lesen. Als Draufgabe zur ohnehin garantierten Stimmungsaufhellung durch literarischen Hochgenuss bietet Waterstones The Searcher von der Autorin signiert an, und da meine Stammbuchhandlung auf unbestimmte Zeit geschlossen war (welcher Voll…. hat das für eine gute Idee gehalten?), bestellte ich dieses Schmuckstück für mein Bücherregal über das Internet. Und um gleich noch einen weiteren Vogel abzuschießen, d.h. eine Lücke in meiner Leseliste zu schließen, beförderte ich A Song for the Dark Times, den neuesten Titel aus Ian Rankins Rebus-Reihe, gleich mit in den Warenkorb. Ins schottische Edinburgh hatte mich meine Krimileidenschaft nämlich noch nie geführt. Die Wartezeit bis zum Liefertermin verkürzte ich mir mit dem 1987 erschienenen ersten Titel der Rebus-Reihe. In Knots & Crosses (Verborgene Muster) erhält der ehemalige Elitesoldat John Rebus, jetzt durchschnittlich begabter und motivierter Detective Seargent in Edinburgh, geschieden und Vater einer fast 12-jährigen Tochter, die Knoten und Kreuze aus dem englischen Titel in Kuverts ohne Absender durch die Tür geschoben. Er kann sich keinen Reim auf die Nachrichten machen und versucht, sich statt dessen auf die Suche nach einem Serienmörder zu konzentrieren, der es offenbar ohne sexuelle Motive auf junge Mädchen abgesehen hat, auf die ihre Eltern nicht gut genug aufpassen. Das Konzentrieren fällt ihm schwer, denn erstens steht es um sein Nervenkostüm nicht zum Besten, und zweitens sucht er als Gegengewicht zu seinen wenig abwechslungsreichen sexuellen Träumen nach realen Begegnungen mit realen Frauen. Aber auch diese Begegnungen sind nicht wirklich eine Erfolgsgeschichte.

Meine Meinung: In einer Einleitung zur 2007 auf Bookbeat veröffentlichten Hörbuchversion seines ersten Rebus-Krimis erzählt Ian Rankin einiges über dessen Entstehungsgeschichte. Er sei 1985 ein junger Mann mit Liebe zu Sprache und Literatur, aber ohne irgendeine Ahnung von Polizeiarbeit gewesen. Dementsprechend sei die Geschichte voller literarischer Bezüge, von Shakespeare und Dostojewski bis zu Norman Mailer und Muriel Spark, über die er gerade seine Abschlussarbeit geschrieben hatte. Die wenigen Details über das Aussehen des Inspektors stimmen mit dem Aussehen seines Schöpfers ebenso überein wie sein Wohnort in der Arden Street in Marchmont, einem wohlhabenden Bezirk Edinburghs und die Marke seines Kassettendecks. John Rebus denke nicht wie ein Cop, sondern wie der Student mit literarischen Ambitionen, der ihn erfunden hatte und der ihn im ersten Entwurf hatte sterben lassen wollen. Daher habe er ihm auch unbekümmert ein komplexes Seelenleben verpasst, nicht ahnend, dass darauf noch 22 Titel und 35 Jahr später Rücksicht zu nehmen sein werde. Der erste Entwurf seiner Geschichte, deren Grundmotiv Robert Louis Stevensons Dr. Jekyll und Mister Hyde ist, sei 250 Seiten lang gewesen, und auf Anraten seiner Agentin habe er ihn nochmals gekürzt. Herausgekommen ist eine Geschichte, die die Verflechtungen zwischen den Charakteren nur grob umreißt, was ich beim Zuhören aber als eher wohltuend empfunden habe, auch wenn das Ende für meinen Geschmack gerne etwas mehr ausgeschmückt sein dürfte. Auch das Motiv von Dr. Jekyll und Mister Hyde finde ich nur angedeutet, ohne dass mir deswegen aber etwas abgeht. Apropos abgehen: Morgen sperren in Österreich die Buchhandlungen endlich wieder auf.

Weitere Besprechungen des Romans findet ihr in der crimealley und im wortgestöber.

Ian Rankin, Knots & Crosses, als Hörbuch gelesen von Bill Paterson, 1999 Orion Publishing Group, mit einer Einleitung des Autors auf Bookbeat 2007, 3 h 24 min.

In deutscher Übersetzung von Ellen Schlootz: Verborgene Muster. Wilhelm Goldmann Verlag München 2000, Neuveröffentlichung 2019. 225 Seiten.

The Poet’s Twins

Stratford-upon-Avon im Jahr 1596. Der 11-jährige Hamnet braucht  Hilfe. Seine Zwillingsschwester Judith liegt mit Fieber und Beulen am Hals im Bett und fühlt sich von Minute zu Minute elender, aber der einzig Greifbare ist der Großvater, und der cholerische Handschuhmacher wartet nur auf eine Gelegenheit, um den Enkel seinen Zorn fühlen zu lassen. Hamnets Mutter ist außerhalb der Stadt bei ihren Bienenstöcken, und obwohl sie die Gefahr spürt, rettet sie einen Schwarm verirrter Bienen, bevor sie sich auf den Heimweg macht. Auch sein Vater ist nicht da. Er ist als Stückeschreiber im fernen London sehr erfolgreich, besucht seine Familie aber nur alle paar Monate. Die Frau des Apothekers will dem Jungen ebenfalls nicht helfen, denn seine früher angesehene Familie zählt nicht mehr viel. Zu undurchsichtig sind die Geschäfte des Handschuhmachers, zu wenig Frömmigkeit lassen er und auch seine als seltsam bekannte Schwiegertochter erkennen. Als diese endlich nach Hause kommt, bietet sie alle ihre mentalen Kräfte und Heilkünste auf, um die Tochter nichts ins Jenseits hinüber gleiten zu lassen, übersieht dabei aber die Gefahr für ihren Sohn.

Meine Meinung: In  Hamnet, einem der 6 Titel auf der Shortlist des #Women’s Prize for Fiction 2020, erzählt Maggie O’Farrell, wie es dazu gekommen sein könnte, dass der größte Dramatiker aller Zeiten seinen verstorbenen Sohn zur Titelfigur seines berühmtesten Stücks gemacht hat. Der Name des Dichters wird dabei kein einziges Mal erwähnt, und das ist nur logisch, denn im Zentrum stehen weder er noch seine Werke. Statt dessen geht es vor allem darum, wie das Leben und der Alltag für Frauen im Elisabethanischen England ausgesehen hat, welchen Regeln und Einschränkungen sie unterworfen waren, mit welchen Gefahren sie fertig werden mussten und welchen Preis sie für ein bisschen Individualität zu bezahlen hatten. Lesen und Schreiben lernen nur die wenigsten, bei jeder Geburt riskieren sie ihr Leben, und ihre Geschicke bestimmen die Väter und Brüder. Die Frauen in dieser Erzählung sind Hamnets Mutter, seine Großmütter und seine Schwestern. Maggie O’Farrell erzählt uns die ganze Geschichte der Familie, lässt uns dabei sein, wie Agnes Hathaway schon als Kind das Schicksal anderer erahnen kann und den Alltag mit ihrer Stiefmutter und ihren jüngeren Geschwistern meistern muss, nachdem ihr Vater verstorben ist, bis sie dem um 8 Jahre jüngeren Sohn des Handschuhmachers begegnet und mit ihm ein Kind zeugt, um ihn heiraten zu dürfen. Als naturverbundene Seele hat sie es in der Henley Street in Stratford nicht leicht, sich mit dem gewalttätigen Schwiegervater und der resoluten Schwiegermutter zu arrangieren, und erkennt, dass ihr Mann hier nicht glücklich werden kann, sie aber ihrer jüngeren Tochter zuliebe bleiben muss. Als es trotzdem zur Katastrophe kommt, ringt das Paar viele Meilen voneinander entfernt und unter vollkommen unterschiedlichen Lebensbedingungen ums emotionale Überleben. 

Der Autorin entwickelt auf Basis der wenigen bekannten biographischen Daten der Eheleute und detaillierter Kenntnisse über das Leben im England um 1600 eine lebendige und glaubwürdige Fiktion einer Liebesgeschichte, die Daisy Donovan  eindrucksvoll liest. 

Maggie O’Farrell, Hamnet, als Audiobook gelesen von Daisy Donovan, Tinder Press 2020, 10 h 31 min. 

In deutscher Übersetzung von Anne-Kristin Mittag: Judith und Hamnet, für Oktober 2020 bei Piper angekündigt. 

Das Lied des Patroklos

Als Sohn des Königs Peleus und der Nymphe Thetis ist Achilleus nicht nur ein Prinz, sondern auch ein Halbgott, und er ist sich seiner Position und seiner Fähigkeiten schon als Kind bewusst. Im Gegensatz dazu ist Patroklos, der von seinem Vater Menoitios an den Hof des Peleus geschickt wurde, nachdem er den Tod eines Spielkameraden zu verantworten hatte, zurückhaltend und schüchtern und nicht als einziger überrascht, als Achill ihn zu seinem Gefährten macht. Sehr bald sind die beiden mehr als nur Freunde, werden gemeinsam vom Kentauren Chiron in Kriegs- und Heilkunst unterrichtet und ziehen als 16-Jährige gemeinsam in den Krieg gegen Troja. Thetis will ihren Sohn weder an der Seite eines anderen Mannes noch als Krieger sehen, aber ihre Macht reicht nicht aus, um Achill an eine Frau zu binden oder ihn vor der Prophezeiung zu bewahren, sein Leben werde ruhmreich aber kurz sein.

Meine Meinung: Die Sagen der griechischen Mythologie sind eine unerschöpfliche Inspirationsquelle für Autor*innen aller Epochen und aller Literaturgenres, und die Geschichten der Helden des Trojanischen Krieges sind  besonders beliebte Motive, die in unterschiedlichsten Varianten und Interpretationen nacherzählt werden. Während Pat Barker den Kampf um Troja in The Silence of the Girls aus Sicht der Sklavin Briseis erzählt, lässt Madeline Miller Das Lied des Achill von Patroklos, dem Gefährten des größten aller Krieger, singen. Bei Barker kommen die Männer alles andere als gut weg,  auch wenn Briseis in ihrer Schilderung der Brutalitäten gegen sie und die anderen Sklavinnen einräumt, Patroklos sei ihr gegenüber sanfter und verständnisvoller aufgetreten als seine Mitstreiter und Gegner.

Diesen weichen Patroklos macht Miller nun zur zentralen Figur, und von ihm erfahren wir, wie seine Freundschaft zu Achill begann und wie die beiden ihre Beziehung vor aller Augen und gleichzeitig im Geheimen führen. Homosexualität ist in seiner Welt für Knaben auf dem Weg zum Erwachsenwerden zulässig, für Männer im heiratsfähigen Alter aber dennoch ein Tabu, und Thetis scheint noch ihre ganz persönlichen Gründe zu haben, Patroklos das Leben so schwer wie möglich zu machen. Sie ist nicht die über den Dingen stehende Göttin, sondern eine eifersüchtige Mutter, die mehr oder minder hilflos dabei zusehen muss, wie ihr Sohn an das irdische Leben, seine Verlockungen und seine Gefahren verloren geht. Das hat mir an dieser Erzählung besonders gut gefallen: Alle  handelnden Personen, ob Göttin oder Kriegsheld, sind in erster Linie Charaktere mit Stärken und Schwächen, geleitet von profanen Gefühlen und Vorlieben, nicht von den hehren Ansprüchen einer Welt der Helden und des Übernatürlichen, und auch die übernatürlichen Phänomene werden, soweit das möglich ist, in einer Welt des Realen verankert. Gleichzeitig singt Patroklos hier das Lied seiner großen Liebe, nicht frei von Pathos und zugegebenermaßen haarscharf am Kitsch vorbei, aber so, dass ich den Roman als romantische Lovestory in Erinnerung behalten und mir die Hörbuchfassung von Frazer Douglas gerne immer wieder anhören werde.

Madeline Miller, The Song of Achilles, HarperAudio 2012, gelesen von Frazer Douglas, 11 h 15 min.

In deutscher Übersetzung von Michael Wildgassen: Das Lied des Achill. Eisele Verlag 2020.

 

Easter Comfort Reading

Osterferien im Lockdown, mehr entspanntes Zuhausebleiben als mir lieb ist, aber auch eine tolle Gelegenheit, Dinge zu tun, für die ich unter anderen Umständen keine Zeit gefunden hätte: eine Playlist mit den All-time-favourites erstellen, ein ausführliches Telefonat mit den besten Freund*innen aller Zeiten führen, den Kleiderschrank von unten nach oben und wieder zurück kehren, die Lieblingsrezepte sichten und diesmal tatsächlich auch nachkochen, wieder einmal in Peter Ackroyds Shakespeare-Biographie hineinlesen und nach einer sehr langen Pause endlich einen neuen Blogbeitrag schreiben. Shakespeare passt immer, und einer seiner schönsten Texte ist für mich der Prolog zu Romeo & Julia:

Two households both alike in dignity

In fair Verona, where we lay our scene,

From ancient grudge break to new mutiny,

Where civil blood makes civil hands unclean.

From forth the fatal loins of these two foes

A pair of star-cross’d lovers take their life; 

Whose misadventur’d pitious overthrows

Doth with their death bury their parents‘ strife.

The fearful passage of their death-mark’d love,

And the continuance of their parents‘ rage,

Which, but their children’s end, nought could remove,

Is  now the two hours‘ traffic of our stage;

The which if you with patient ears attend,

What here shall miss, our toil shall strive to mend.

Der Ausgang der Geschichte ist also schon vorweggenommen, bevor auch nur ein Montague oder ein Capulet die Bühne betreten hat, und gleichzeitig gelingt es dem Old Bard in den letzten Zeilen dieses Vorworts, dem Drama mit Leichtigkeit zu begegnen. Das zeitlich unbegrenzte Nachspüren der greatest love story of them all hat mich auch über eine deutsche Übersetzung stolpern lassen, die dem englischen Text im Gegensatz zu anderen Übersetzungen zumindest annähernd das Wasser reichen kann. Die  „ganz vorzügliche und höchst beklagenswerte Tragöde von Romeo und Julia“ wird in der Übersetzung von Frank Günther aus dem Jahr 1995 – wieso kannte ich die  eigentlich nicht? – so eingeleitet:

Zwei Häuser, beide gleich an Rang und Stand

Hier in Verona, wie ihr’s gleich erlebt,

Entfachen alten Hass zu neuem Brand,

Bis Bürgerblut an Bürgerhänden klebt.

Vom unheilschwangren Schoß der Feinde sprießt

Ein Liebespaar, von bösem Stern bedroht,

Sein elend unglücklicher Sturz beschließt,

Den Streit der Eltern mit dem eignen Tod.

Der Liebe Todesglanz, ihr Leidensgang,

Und wie der Eltern langer Haß zerfiel

Und erst im Tod der Kinder spät verklang,

Zeigt euch zwei Stunden unser Bühnenspiel;

Und wir, wobei wir sehr auf Nachsicht zählen,

Wolln das verbessern, was dem Text mag fehlen.

414PishM6pL._SX312_BO1,204,203,200_Da fehlt gar nichts, und wer so wie ich auch nach diesem Wochenende noch den einen oder anderen Tag unfreiwillig zuhause bleiben wird, hat daher vielleicht Zeit und Lust,  die bei dtv erschienene zweisprachige Ausgabe zu lesen. Man kann auch zu einer Verfilmung greifen: Entweder zu Franco Zeffirellis Version aus dem Jahr 1969, oder aber zur auch nicht mehr ganz neuen Fassung von Buz Luhrmann mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes. Während Zeffirelli Shakespeare so in Szene setzte, wie der Autor es sich vielleicht gewünscht hätte, nämlich mit einer 15-jährigen Julia (Olivia Hussey) und einem 17-jährigen Romeo (Leonard Whiting) in bunten period costumes, zeigt Fuhrmann, was der Text ziemlich genau 400 Jahre nach der ersten gedruckten Veröffentlichung von 1597 immer noch hergibt, indem der Regisseur ihn unverändert, aber im MTV-Look auf eine Zeitreise nach Verona Beach, New York, schickt.

Comfort Watching also anstelle von Comfort Reading, aber immer nur zuhause wird trotzdem irgendwann unerträglich, und daher habe ich mich, auch wenn es unserem p.t. Bundeskanzler gar nicht recht gewesen wäre, irgendwann auf den Weg gemacht, um die Stadt so einzufangen, wie ich sie – hoffentlich – nicht so schnell wieder zu Gesicht bekommen werde: menschenleer. Don’t get me wrong: Die Touristenmassen, die sich mittlerweile zu jeder Jahreszeit durch jede Hauptstadt dieser Welt drängen, sind ganz und gar nicht nach meinem Geschmack, und oft habe ich sie zum Kuckuck gewünscht, wenn ich einen Samstagnachmittag in der City genießen oder einfach nur eiligen Schrittes zu einem beruflichen Termin wollte, ohne ständig in einen Selfie-Stick zu laufen. Aber Ausgangs- und Versammlungsverbot? Schon mal etwas von Grundrechten gehört? Und außerdem: Keine Buchhandlungen? Aus Gesundheitsgründen? What the f***???  

Es war ein langer Spaziergang bei strahlendem Sonnenschein unter Einhaltung aller Vorsichtsmaßnahmen: mit dem Auto in die Wiener Innenstadt, nur meine Kamera und ich, kein Händeschütteln, keine Küsschen, keine unerlaubte Annäherung jedweder Art, lediglich ein kurzer Besuch (mit Schutzmaske) in einem französischen Feinkostladen, der im normalen Leben Köstlichkeiten nicht nur verkauft, sondern auch serviert. Hier einige Eindrücke von einem Stadtbummel, der mir im Gedächtnis bleiben wird:

 

Grown-Ups-667x1024Wieder Zuhause wurde es Zeit für Comfort Listening. Keine Familienfeiern? – Okay, ich bin ja durchaus kompromissbereit, also: Familienfeier im kleinsten Kreis. Aber auch die muss vorbereitet werden. Der britische Buchblogger Savidge, von dem ich auch den Titel für diesen Beitrag geklaut habe, lieferte die richtige Anregung für ein Hörbuch als Begleitung beim Ostereierfärben. Sein März 2020-Video erinnerte mich an eine Autorin, die für mich seit langem eine Garantin für Feel Good-Reads nach meinem Geschmack ist, genau das Richtige für eine Zeit, in der die gute Laune leicht abhanden kommen kann, sobald das Handy die neuesten News liefert. In ihrem jüngsten Roman Grown Ups erzählt Marian Keyes, was passiert, als Cara Casey bei der Geburtstagsfeier ihres Schwagers Johnny nach einem Schlag auf den Kopf plötzlich beginnt, die Dinge beim Namen zu nennen. Mit dem Geburtstagskind am Tisch sitzen auch Caras gutmütiger Ehemann Ed, ihr egozentrischer Schwager Liam mit seiner um vieles jüngeren Ehefrau Nell sowie der Casey-Nachwuchs, der alle Tugenden und Untugenden der Millenials vor Augen führt, während Johnnys Ehefrau Jessie, erfolgreiche Geschäftsfrau und ganz nebenbei auch noch fünffache Mutter, wie immer bei solchen Gelegenheiten in der Küche das perfekte Geburtstagsessen aus dem Hut zaubert. Die Powerfrau schafft das alles problemlos. Das glauben zumindest alle – bis Cara den Mund aufmacht…

Meine Meinung: Bisher habe ich alle Romane der irischen ChickLit-Autorin mit großen Vergnügen gelesen, und mit Grown Ups zeigt Marian Keyes wieder, wie man ernsthafte Themen in einen Unterhaltungsroman verpacken kann, ohne das Problem zu banalisieren oder ihre Leser*innen zu langweilen. Diesmal geht es vor allem um Bulimie, aber auch ihren Standpunkt zum Umgang ihres Heimatlandes mit Asylsuchenden macht die Autorin anhand einer ihrer Figuren klar. Die junge Syrerin Pearl lässt sie darüber hinaus Worte finden, die auf ein Problem aufmerksam machen, dem wohl nicht nur ich bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe: Period Poverty beschreibt die Tatsache, dass in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebenden Frauen meist das Geld für Hygieneprodukte fehlt. So schwerwiegend all diese Probleme auch sind, Marian Keyes macht daraus leichtfüßige Unterhaltung, die von Situationskomik und Sinn für die Absurditäten des Alltags lebt. Eine deutsche Übersetzung ist leider noch nicht verfügbar, aber das englische Original ist mit mittelprächtigen Englischkenntnissen durchaus zu bewältigen. Die Hörbuchversion liest die Autorin selbst, und auch wenn die Übergänge zwischen einzeln aufgenommenen Passagen manchmal etwas holprig sind, Marian Keyes findet für jede ihrer Figuren die passende Tonart, und ihre Lesung der Beschreibung eines Familienwochenendes des Casey-Clans in einem Murder Mystery-Hotel  könnte auch als Comedysketch bestehen. 

Marian Keyes, Grown Ups, Michael Joseph Publishers 2020, 656 Seiten.

Als Hörbuch gelesen von der Autorin, Whole Story Audiobooks 2020, 17 h 3 min.

William Shakespeare, Romeo & Julia, Zweisprachige Ausgabe. Deutsch von Frank Günther. dtv Verlagsgesellschaft 1998, 304 Seiten. 

Surviving Hurricane Katrina

Bois Sauvage, Mississippi, August 2005. Die 15-jährige Esch hat gerade entdeckt, dass sie schwanger ist, und sie weiß, dass sie keine Hilfe zu erwarten hat. Ihre Beziehung zum Vater des Babys ist eine einseitige Liebe, ihre Mutter ist sieben Jahre zuvor bei der Geburt ihres jüngsten Bruders verblutet,  der älteste Bruder Randall konzentriert sich auf seine Hoffnung, über ein Football-Stipendium ans College zu kommen, Skeetha, der Zweitälteste, interessiert sich nur für seine Pitpull-Hündin China und deren Welpen, und  die Gedanken ihres Vater kreisen, vorausgesetzt, er ist nüchtern genug, darum, wie das desolate Haus der Familie ohne ausreichende Mittel auf einen Tropensturm vorbereitet werden kann, von dem noch niemand weiß, dass er als Hurricane Katrina 1.833 Todesopfer fordern wird, 238 davon in Mississippi. In Salvage the Bones (Vor dem Sturm) beschreibt Jesmyn Ward  die Geschehnisse an den zwölf Tagen vor und während der Katastrophe aus Sicht des Mädchens. Esch beobachtet die Veränderungen ihres Körpers, erinnert sich  immer wieder an ihre liebevolle Mutter und sucht Analogien zwischen ihrem Schicksal und jenem der Gestalten aus der Griechischen Mythologie, allen voran der Zauberin Medea.

Meine Meinung: Über ein Jahr lag Jesmyn Wards Roman auf meinem SuB, nachdem ich während des #BlackHistoryMonth 2018 darauf aufmerksam wurde und das  Buch sofort haben musste. In den heurigen Osterferien holte ich es dann endlich hervor. 260 Seiten seien sicher schnell gelesen, dachte ich, aber dem war dann nicht so. Einerseits erforderte der afroamerikanische Südstaatenslang, in dem Esch die Dialoge wiedergibt, meine volle Aufmerksamkeit, andererseits ist der Inhalt so intensiv, dass ich immer wieder Pausen einlegen musste. Eschs Familie lebt unter schwierigsten Bedingungen, es gibt zwar zu essen und ein Dach über dem Kopf, aber das war’s. Seit dem Tod der Mutter sind die Kinder weitgehend auf sich alleine gestellt, und so ist auch niemand da, der Esch davor schützen könnte, sich von den Jungs der Umgebung benutzen zu lassen, oder ihre Brüder vom Stehlen abhalten würde. Aber die Kinder haben doch ein gewisses Rüstzeug mitbekommen: sie gehen regelmäßig zur Schule und haben dadurch ihre Zukunftschancen nicht verspielt, sie putzen sich die Zähne und sie wechseln täglich ihre Wäsche. Das Wäschewaschen übernimmt Esch, und es ist das Symbol für das Nachwirken der Fürsorge der Mutter. Jesmyn Ward erzählt, wie eine kleine Familie von Katastrophenstürmen gebeutelt wird und wie sie sich unbeholfen, aber doch, vor dem Allerschlimmsten zu schützen versucht. Das geht unter die Haut. 

Jesmyn Ward, Salvage the Bones. Bloomsbury Paperbacks 2011, 260 Seiten. 

In deutscher Übersetzung von Ulrike Becker: Vor dem Sturm. Ullstein Taschenbuch 2015. 320 Seiten.